Pushpak Mahabharata Buch 12Zurück WeiterNews

Kapitel 300 - Über die Tugenden

Yudhishthira fragte:
Oh Großvater, gelehrte Menschen preisen Wahrheit, Selbstzügelung, Vergebung und Weisheit. Was ist deine Meinung zu diesen Tugenden?

Bhishma sprach:
Diesbezüglich möchte ich dir eine alte Geschichte erzählen, oh Yudhishthira, über ein Gespräch zwischen den Sadhyas und einem Schwan. Einst nahm der ungeborene und ewige Herr aller Wesen (Brahma) die Gestalt eines goldenen Schwans an und wanderte durch die drei Welten, bis er auch zu den Sadhyas kam (himmlische Wesen auf dem Weg zur Vollkommenheit).

Die Sadhyas sprachen:
Oh Herr, wir werden die göttlichen Sadhyas genannt und möchten dich befragen. Sprich zu uns über den Weg zur Befreiung (Mokshadharma). Du scheinst damit wohlvertraut, denn wir haben gehört, daß du gelehrt, redegewandt und weise bist. Oh Vogel, was betrachtest du als das Höchste? Oh Hochbeseelter, worin findet dein Geist Seligkeit? Oh Erster der Vögel, belehre uns über jenen Weg, welchen du, oh König der befiederten Geschöpfe, als höchsten betrachtest und wodurch man bald von allen Fesseln befreit sein kann.

Der Schwan sprach:
Oh ihr Trinker von Amrit, ich habe gehört, daß man zu Entsagung, Selbstzügelung, Wahrhaftigkeit und innerer Stille Zuflucht nehmen sollte. Indem man alle Verstrickungen des Herzens löst, überwindet man beides, die Anhaftung und die Ablehnung. Man verletze keine anderen Wesen, enthalte sich dem Fluchen, hüte sich vor den Worten der Übelgesinnten sowie vor den eigenen Worten, welche andere verletzen oder ihren Zorn entfachen und zur Hölle führen. Die Worte können wie Pfeile von den Lippen fliegen, und wird man von ihnen durchbohrt, brennt man unaufhörlich im Leiden. Sie treffen nichts anderes als das verwundbare Herz der anvisierten Person. Der Weise sollte mit diesen Pfeilen niemals auf andere zielen, und wenn er selbst davon getroffen wird, möge er mit Vergebung antworten und friedlich bleiben. Wer angegriffen wird, aber gelassen vergibt, nimmt dem Provokateur alle Energie und sammelt selbst hohen Verdienst an. Der Rechtschaffene, der voller Heiterkeit und frei von Böswilligkeit seinen aufflammenden Zorn besiegt, welcher unbesiegt zum Feind wird und dazu führt, daß man von anderen schlecht spricht, der gewinnt großes Verdienst. Werde ich verleumdet, so antworte ich nicht. Werde ich angegriffen, so vergebe ich den Angriff.

Die Rechtschaffenen kennen Vergebung, Wahrhaftigkeit, Aufrichtigkeit und Mitgefühl als höchste Tugenden. Der verborgene Sinn der Veden ist die Wahrhaftigkeit. Der verborgene Sinn der Wahrhaftigkeit ist die Selbstzügelung. Der verborgene Sinn der Selbstzügelung ist die Befreiung. Das lehren alle heiligen Schriften. Ich betrachte den als Brahmanen und Muni, der die aufsteigenden Impulse der Rede, die Impulse des Zornes im Herzen, der Begierde, des Hungers und der Wollust besiegt. Wer seinen Zorn beherrscht, ist dem Zornigen überlegen, wie auch der Entsagende dem Zügellosen, der Mutige dem Feigling und der Weise dem Unwissenden. Wer mit Verleumdung angegriffen wird, sollte nicht zurückschießen. Denn wahrlich, der Zorn des Angreifers wird ihn selbst verbrennen und all seine Verdienste zerstören. Wer angegriffen wird und nicht streitet, oder wer gelobt wird und nicht schmeichelt, wer solche Standhaftigkeit hat und nicht zurückschlägt, wenn er geschlagen wird, sondern dem Schlagenden vergibt, dessen Gesellschaft suchen die Götter. Man vergebe dem Sünder als wäre er ein Rechtschaffener und ertrage Verachtung, Schläge und Verleumdung. Wer auf diese Weise handelt, erreicht Vollkommenheit. Obwohl ich keine Wünsche mehr habe, diene ich stets ehrfürchtig den Rechtschaffenen. Ich habe keinen Durst und keinen Zorn. Selbst von der Begierde bedrängt, verlasse ich nie den Pfad der Gerechtigkeit oder gehe auf die Suche nach Reichtum. Wenn man mich verflucht, so fluche ich nicht zurück. Denn ich weiß, daß die Selbstzügelung das Tor zur Unsterblichkeit ist.

Laßt mich euch ein großes Mysterium verkünden: Es gibt keinen verdienstvolleren Zustand als das Menschsein. Befreit von aller Sünde, wie der Vollmond von den dunklen Wolken, kann ein Mensch voller Weisheit erstrahlen und durch die innere Stille die Vollkommenheit erreichen. Eine selbstgezügelte Person, die als heilsame Stütze der Verehrung und des Lobes aller würdig ist, erreicht wahrlich die Gesellschaft der Götter. Gewöhnlich neigen die Menschen zur Kritik und treten selten hervor, um die Verdienste einer Person zu loben, während sie gern über deren Fehler sprechen. Wer jedoch die Rede und das Denken wohlgezügelt hält und voller Hingabe zum Höchsten ist, der kann die wahrhaften Früchte der Veden, der Buße und Entsagung erreichen. Ein Mensch der Weisheit sollte die Unwissenden niemals tadeln oder beleidigen. Er sollte ihnen auch nicht schmeicheln oder sich verletzen lassen. Für den wahrlich Weisen ist jede Beschimpfung wie Amrit. Er wird damit vom Zorn geheilt, während der Verleumder seinen Untergang besiegelt. Denn alles was man mit Zorn vollbringt, seien es Opfer, Geschenke, Askese oder Wohltätigkeit, sind Taten, deren Verdienste durch Yama geraubt werden. Damit sind alle Bemühungen eines zornvollen Menschen ohne wahren Sinn.

Oh ihr Ersten der Unsterblichen, wer die vier Tore wohlbewacht, nämlich das Geschlechtsorgan, den Magen, die Arme und die Zunge, der gilt als Kenner des Dharma. Wer beständig Wahrhaftigkeit, Selbstzügelung, Aufrichtigkeit, Mitgefühl, Geduld und Entsagung übt, dem Vedenstudium gewidmet ist, nicht begehrt, was andere ihr Eigen nennen, und mit Einsicht das Heilsame verfolgt, der wird zum Himmel aufsteigen. Wie ein Kalb aus allen vier Zitzen der Mutterkuh trinkt, so sollte man sich der Übung all dieser Tugenden widmen. Ich kenne jedoch nichts, was heilsamer wäre als die Wahrhaftigkeit. Nachdem ich unter Menschen und Göttern gewandert bin, kann ich sagen, daß die Wahrhaftigkeit das einzige Mittel ist, um den Himmel zu erreichen, wie ein Schiff das einzige Mittel ist, um den Ozean zu überqueren.

Der Mensch wird wie jene, mit denen er zusammenlebt, die er verehrt und als Vorbild nimmt. Ob eine Person einem Tugendhaften oder einem Sünder ehrfurchtsvoll dient, einem askesereichen Weisen oder einem Dieb, ihnen wird sie gleich, wie ein Kleid das Färbemittel aus dem Wasser annimmt. Die Götter verkehren stets mit den Weisen und Tugendhaften. Sie suchen nicht die weltlichen Vergnügungen der Menschen. Wer die Vergänglichkeit der menschlichen Vergnügungen erkannt hat, welche kommen und gehen wie der Mond oder der Wind, der hat wenig zu befürchten. Denn ihn lieben die Götter, der den Pfad der Gerechtigkeit und Tugend geht, auf dem der Höchste Geist (der Purusha) vollkommen rein erstrahlt, der in jedem Wesen wohnt. Wer jedoch den Sinnesbegierden hingegeben ist, nur an den eigenen Bauch denkt, nach dem Eigentum anderer greift und grausame Reden führt, den halten die Götter von sich fern, selbst wenn er die entsprechenden Reinigungsriten durchführt. Die Götter sind niemals mit einem Gemeinen zufrieden, der keine Zügelung in der Ernährung kennt und sündhaft handelt. Andererseits verkehren die Götter mit jenem Menschen, der die Wahrheit achtet, der dankbar ist und das Dharma bewahrt. Schweigen ist besser als jede Rede. Als zweites kommt die wahrhafte Rede, als drittes die gerechte Rede und als viertes die freundliche Rede.

Da fragten die Sadhyas (als himmlische Wesen):
Wovon ist diese Welt umhüllt? Warum erstrahlt der Mensch nicht im reinen Licht? Warum verlieren die Menschen ihr Mitgefühl? Warum können sie nicht zum Himmel aufsteigen?

Der Schwan antwortete:
Die Welt ist von Unwissenheit umhüllt. Wegen ihrer Ichhaftigkeit erstrahlen die Menschen nicht im reinen Licht. Durch Habgier geht ihr Mitgefühl verloren, und sie lassen sogar ihre Freunde im Stich. Und wegen ihrer irdischen Anhaftung können sie nicht zum Himmel aufsteigen.

Die Sadhyas fragten:
Wer allein ist unter den Brahmanen stets glückselig? Wer allein kann unter vielen Leuten schweigsam verweilen? Wer allein ist stark, obwohl er schwach erscheint? Wer allein ist von allen Streitigkeiten frei?

Der Schwan antwortete:
Allein der Weise ist unter den Brahmanen stets glückselig. Allein der Weise kann unter vielen Leuten sein Schweigen bewahren. Allein der Weise ist stark, obwohl er schwach erscheint. Und allein der Weise ist von allen Streitigkeiten frei.

Die Sadhyas fragten:
Worin besteht die Göttlichkeit der Brahmanen? Worin besteht ihre Reinigung? Worin besteht ihre Verunreinigung? Und worin besteht ihr Menschsein?

Der Schwan sprach:
Im Studium der Veden ist die Göttlichkeit der Brahmanen begründet. In der Entsagung liegt ihre Reinigung, in der Unwissenheit liegt ihre Verunreinigung und in der Sterblichkeit ihr Menschsein.

Bhishma fuhr fort:
Damit habe ich dir dieses ausgezeichnetes Gespräch zwischen den Sadhyas und dem Schwan berichtet. Wahrlich, der (grob- und feinstoffliche) Körper ist die Quelle aller Taten, und die Wahrheit ist das Seiende, was man auch das Selbst oder die Höchste Seele nennt.


Zurück Inhaltsverzeichnis Weiter