Pushpak Mahabharata Buch 12Zurück WeiterNews

Kapitel 266 - Über die Bedächtigkeit

Yudhishthira sprach:
Du bist, oh Großvater, unser höchster Lehrer in allen Taten, die (wegen unserer Pflichtenkonflikte) schwer zu vollbringen sind. So frage ich dich, wie sollte man eine Tat beurteilen, inwieweit sie zu tun oder zu lassen sei? Sollte man kurz entschlossen handeln oder mit Bedacht?

Bhishma sprach:
Dazu wird die alte Geschichte erzählt, was Chirakarin aus dem Stamme von Angiras geschah. Doppelt gesegnet sind jene Menschen, die bedächtig handeln (denn sie vermeiden Sünde und finden Erkenntnis). Wer genügend nachdenkt vor einer Tat, der ist wahrlich mit Intelligenz begabt. Solch ein Mensch versündigt sich nicht im Handeln. Einst lebte Chirakarin, der mit großer Weisheit gesegnet und ein Sohn von Gautama war. Über alles, was er tun sollte, pflegte er lange nachzudenken. So kam es, daß er den Namen Chirakarin („Bedächtiger“) erhielt, weil er über alles lange nachdachte, lange im Wachen, lange im Schlafen und lange während jeder Handlung, die er vollbrachte. So lastete ihm auch der Vorwurf eines müßigen Menschen an. Unwissende und wenig hellsichtige Menschen sahen sogar einen Dummen in ihm. Als sein Vater Gautama eines Tages eine große Sünde bei seiner Ehefrau (Ahalya, die von Indra verführt wurde) bemerkte, da befahl er gerade diesem Chirakarin im Zorn und nachdem er seine anderen Söhne übergangen hatte: „Töte diese Frau!“ Und nachdem er diese Worte ohne viel Nachdenkens gesprochen hatte, ging der gelehrte Gautama, dieser Erste der Yogis und höchst gesegnete Asket, in die Einsamkeit des Waldes. Doch bevor Chirakarin „So sei es!“ sprach, begann er, aufgrund seiner Natur und Gewohnheit, nie eine Tat unbedacht zu vollbringen, wie folgt nachzudenken:

Wie kann ich dem Befehl meines Vaters folgen, und wie kann ich die Tötung meine Mutter vermeiden? Wie kann ich in dieser Situation, wo die Pflichten gegeneinander stehen, die Sünde verhindern, wie sie Übelgesinnte ansammeln? Die Gebote des Vaters zu erfüllen, ist höchstes Verdienst. Die Mutter zu beschützen ist selbstverständliche Pflicht. Ein Sohn ist von beiden abhängig. Wie kann ich also qualvolle Sünde und Reue vermeiden? Wer könnte noch glücklich sein, nachdem er eine Frau und besonders seine Mutter getötet hat? Wer könnte Wohlstand und Ruhm erreichen, wenn er seinen eigenen Vater mißachtet? Die Gebote des Vaters sind Pflicht. Der Schutz der Mutter ist Pflicht. Wie soll ich mich verhalten, um beide Verpflichtungen zu erfüllen? Der Vater legt sein eigen Selbst in den Leib der Mutter und nimmt als Sohn Geburt, um seinen Weg, sein Verhalten, seinen Namen und seinen Stamm fortzusetzen. So bin ich als Sohn sowohl von meiner Mutter als auch von meinem Vater geschaffen worden. Da ich meinen Ursprung kenne, warum sollte ich mir dessen nicht bewußt sein? Die Worte, die der Vater während der Geburtsriten und der Zeremonie zur Rückkehr aus dem Hause des Lehrers gesprochen hatte, sollten mir Verpflichtung sein, ihn zu ehren und vollkommen zu vertrauen. Weil er den Sohn erzieht und belehrt, ist der Vater dem Sohne die höchste Autorität und Zuflucht. Sogar die Veden sagen, daß der Sohn die Gebote des Vaters als höchste Pflicht betrachten sollte. So ist der Sohn des Vaters einzige Freude und der Vater für den Sohn sein Ein und Alles. Ohne Vater gäbe es weder Körper noch irgendeinen Besitz des Sohnes. Deshalb sollten die Gebote des Vaters vertrauensvoll befolgt werden. Wer allein dem Gebot des Vaters folgt, der bleibt von Sünde rein. Der Vater gibt die Nahrung, die Belehrung der Veden und alles weltliche Wissen. Bereits vor der Geburt des Sohnes vollbringt der Vater die Riten während der Schwangerschaft seiner Frau. Der Vater ist die Zuflucht, der Himmel und die höchste Buße. Wenn der Vater zufrieden ist, sind auch alle Götter befriedigt. Was auch immer der Vater gebietet, das ist zum Segen des Sohnes. Die freundlichen Worte, die der Vater spricht, reinigen den Sohn von all seinen Sünden. Wenn auch die Blüten vom Stengel fallen und die Früchte vom Baum, der Vater wird auch in der Not aus elterlicher Zuneigung niemals den Sohn verlassen. So denke ich über die Verehrung, die der Sohn dem Vater schuldet. Der Vater ist für ihn kein gewöhnlicher Mensch.

Doch nun werde ich über meine Mutter nachdenken. Die Mutter ist die Ursache für diese körperliche Verbindung der fünf Elemente zu meiner Geburt als Mensch, wie der Feuerquirl für das Feuer unablässig ist. Die Mutter ist für alle Menschen der Feuerquirl bezüglich ihrer Körper und das Glück ihres Daseins. Die Mutter ist der Schutz jedes gedeihenden Kindes, und ohne Mutter wären sie hilflos. Selbst wenn er als Mann allen Wohlstand verloren hat, aber das Elternhaus betritt und „Oh Mutter!“ rufen kann, dann vergeht jeder Kummer und das Alter greift den Sohn nicht an. Wer noch eine Mutter hat, selbst wenn er bereits viele Söhne und Enkel besitzt und hundert Jahre zählt, geht zu ihr wie ein zweijähriges Kind. Tüchtig oder untüchtig, krank oder gesund, der Sohn wird immer von der Mutter beschützt. So ist das Gebot der Natur, und er hat keine zuverlässigere Beschützerin. Wenn er seine Mutter verliert, wird der Sohn alt, vom Kummer geschlagen, und die Welt erscheint ihm leer. Der Mutter kommt kein kühlender Schatten gleich. Es gibt keine Zuflucht, keine Verteidigung und keine Liebe wie die der Mutter. Weil sie den Sohn in ihrem Leib trägt, heißt die Mutter auch Dhatri (die Tragende), weil sie ihn gebiert, heißt sie Janani (die Gebärende), weil sie ihn säugt und pflegt, heißt sie Amba (Mama), weil sie Helden hervorbringt, heißt sie Virasu (Heldenmutter), und weil sie den Sohn hegt und nach ihm schaut, heißt sie auch Sura (göttliche Sonne). Die Mutter ist wie der eigene Körper. Welcher vernünftige Mensch würde seine Mutter töten, durch deren Sorge sein Leben erhalten wurde?

Wenn sich Mann und Frau zur Zeugung vereinigen, wird der Kinderwunsch von beiden gleich gehegt, doch die Verwirklichung hängt mehr von der Mutter ab als vom Vater. Die Mutter kennt die Familie und den Vater, der den Sohn gezeugt hat. Vom ersten Moment an beginnt die Mutter, ihr Kind zu lieben und findet Entzücken daran. Dem Vater liegt nur an der Nachkommenschaft. Wenn Männer, nachdem sie die Hand der Ehefrau angenommen haben, um das Verdienst der Ehe zu gewinnen, den Verkehr mit den Ehefrauen anderer Leute suchen, verlieren sie jede Würde. Weil der Mann seine Ehefrau versorgt, heißt er Bhartri (der Ernährer), und weil er sie beschützt, heißt er Pati (Herr). Wenn er diese beiden Pflichten aufgibt, ist er weder ihr Ernährer noch ihr Ehemann. Die Frau trifft diesbezüglich keine Schuld. Es ist der Mann, der sich hier versündigt, indem er diesen Ehebruch begeht. Man sagt, daß die Ehe heilig und der Ehemann der höchste Gott für die Ehefrau ist. Meine Mutter schenkte ihre Jungfräulichkeit dem, der als Ehemann zu ihr kam. Deshalb sind Ehefrauen etwas Heiliges, und für das Sündige ist der Mann verantwortlich. Denn wahrlich, sie sind das schwache Geschlecht und genötigt zu bitten. So können Frauen nicht als Schuldige betrachtet werden. War es nicht eine offensichtlich Sünde von Indra, als er das schwache Geschlecht ansprach und verführte? Er hatte wohl die Kraft, sich zu zügeln. Es gibt keinen Zweifel, daß meine Mutter unschuldig ist. Die ich töten soll, ist eine Frau und darüber hinaus meine Mutter. Sie verdient dafür höchste Verehrung. Selbst die unvernünftigen Tiere wissen, daß die Mutter tabu ist. Den Vater kennen wir als Inbegriff aller Götter, die Mutter jedoch als Inbegriff aller Sterblichen und aller Götter.

So verbrachte Chirakarin, der Sohn von Gautama, aufgrund seiner Gewohnheit, vor dem Handeln lange nachzudenken, viel Zeit (ohne die Tat zu vollbringen, die ihm sein Vater befohlen hatte). Am nächsten Tag kam sein Vater Gautama aus dem Wald zurück. Und der weise Medhatithi aus dem Stamme von Gautama, der bußereiche Asket, hatte während dieser Zeit die Unbesonnenheit der Strafe erkannt, die er seiner Ehefrau auferlegt hatte. Voller Kummer und Tränen kam aufgrund seiner Verdienste aus dem Vedastudium aus der Tiefe seines Wesens das Bedauern über ihn und er sprach zu sich:
Indra, der Herr der drei Welten, kam in Gestalt eines Brahmanen zu meinem Rückzugsort und erbat die Gastfreundschaft. Er wurde von mir mit gebührenden Worten empfangen und dem rechten Willkommen geehrt, mit Wasser für seine Füße und den üblichen Gaben des Arghya. Ich gewährte ihm alles, worum er gebeten hatte, und stellte mich unter seinen Schutz. Ich dachte, ihn damit freundlich zu stimmen. Da er sich aber trotzdem unfreundlich zeigte, wurde mir klar, daß ich fälschlicherweise meine Ehefrau Ahalya als schuldig verurteilt hatte. Es scheint, daß weder meine Ehefrau, noch ich selbst oder Indra, der während seiner Wanderung durch den Himmel meine Ehefrau erblickt hatte (und durch ihre außergewöhnliche Schönheit alle Sinne verlor), schuldig sind. Die Schuld liegt allein in meiner unbesonnenen Yoga Kraft. Die Weisen sagen, daß alles Leid aus dem Neid entspringt, der seinerseits aus Verblendung und Unwissenheit entsteht. Durch diesen Neid wurde auch ich aus meiner Gelassenheit gerissen und in einen Ozean der Sünde getaucht (durch die Verurteilung meiner Ehefrau). Ach, ich habe eine Frau getötet und sogar meine Ehefrau - eine Ehefrau, die aufgrund ihrer Anteilnahme an den Sorgen ihres Mannes Vasita (Angetraute) genannt wird und aufgrund meiner Verpflichtung zur Sorge ihr gegenüber auch Bharya (Bedürftige). Wer könnte mich aus dieser Sünde retten? Unbedacht und zu schnell habe ich gehandelt, als ich dem hochbeseelten Chirakarin befahl (meine Frau zu töten). Ach, möge er doch seinem Namen treu gewesen sein, dann könnte er mich aus dieser Schuld retten. Doppelt gesegnet seist du, oh Chirakarin (Bedächtiger)! Wenn du diese Tat lange bedacht hast, dann bist du wahrlich deines Namens würdig. Rette mich und deine Mutter, meine Buße und dich selbst vor großer Sünde! Sei wahrlich ein Bedächtiger! Aufgrund deiner großen Weisheit pflegtest du stets sehr lange vor dem Ausführen jeder Tat nachzudenken. Mögest du dich auch diesmal so verhalten haben! Sei ein wahrer Chirakaraka. Deine Mutter hatte lange auf dein Erscheinen gewartet. Lange trug sie dich in ihrem Leib. Oh Chirakarin, möge uns deine Gewohnheit des langen Reflektierens vor jeder Handlung heute zum Wohle gereichen! Vielleicht verzögerte mein Sohn Chirakarin mein Gebot in Anbetracht der Leiden, die es uns verursachen würde. Vielleicht schlief er über das Gebot und trägt es in seinem Herzen (ohne die Begierde, es schnell hinter sich zu bringen). Vielleicht zögerte er nach langer Überlegung in Anbetracht des Kummers, der sowohl ihn als auch mich treffen würde.

Bhishma fuhr fort:
Mit solchem Bedauern, oh König, sann der große Rishi Gautama über seinen Sohn Chirakarin und ging zu ihm. Als der Sohn sah, wie sein Vater nach Hause zurückkehrte, wurde er vom Kummer überwältigt, weil er die Waffe abgelegt hatte, und verneigte sich demütig vor Gautama, um seine Gnade zu gewinnen. Doch als der Rishi seinen Sohn erblickte, wie er sich vor ihm niederwarf und ebenfalls seine Ehefrau, die vor Scham fast versteinert war, kam die Heiterkeit in sein Herz zurück. Seit dieser Zeit lebte der hochbeseelte Rishi in dieser einsamen Klause an der Seite seiner Gattin und seines bedächtigen Sohnes. Er hatte seine Ehefrau verurteilt und war in den Wald gegangen, um Askese zu üben. Seinen demütigen Sohn hatte er mit der Waffe in der Hand zurückgelassen. Als er sah, wie sich sein Sohn ihm zu Füßen warf, erkannte er, daß er um Vergebung bat, weil er die Waffe niedergelegt hatte (da er nach reiflicher Überlegung die Unschuld seiner Mutter einsah). Lange lobte der Vater seinen Sohn, und lange roch er an seinem Kopf und umarmte ihn. Dann segnete er ihn mit den Worten: „Mögest du lange leben!“ Und voller Heiterkeit und zufrieden mit dem, was geschehen war, sprach Gautama zu ihm:
Oh Chirakarin, sei gesegnet! Mögest du vor dem Handeln immer genügend nachdenken. Durch deine Bedächtigkeit bezüglich meines Gebotes hast du mein ewiges Glück bewahrt.

Dann rezitierte der Beste der Rishis folgende Verse bezüglich der Verdienste solch bedächtiger Menschen, die jede Handlung lange genug bedenken:

„Langsam und bedächtig soll man eine Freundschaft binden. Langsam und bedächtig soll man sie wieder lösen. Eine langsam und bedächtig gewachsene Freundschaft ist lange Zeit haltbar. Langsam und bedächtig sollte man aufkommenden Zorn, Stolz, Streit und Lastern begegnen. Wer alle zweifelhaften Taten wohlbedenkt, der ist des Lobes würdig. Wenn ein Vergehen eines Verwandten, Freundes, Dieners oder einer Ehefrau nicht völlig offensichtlich ist, dann ist es gut, bezüglich einer Verurteilung lange nachzudenken.“

So, oh Bharata, war Gautama mit seinem Sohn zufrieden, weil er dessen Gebot so lange bedacht hatte. Alle Taten sollte ein Mensch auf diese Weise wohl bedenken und erst danach vollbringen, was zu tun ist. Mit diesem Verhalten kann man sicherlich viel zukünftiges Leiden vermeiden. Der Mensch, der dem Zorn nicht spontan nachgibt und jede Tat genügend bedenkt, wird seine Handlungen nicht bereuen müssen. Bedächtig und ehrfurchtsvoll sollte man den Eltern dienen und an ihrer Seite sitzen. Bedächtig sollte man seine Aufgaben erkennen, und bedächtig sollte man sie vollbringen. Bedächtig sollte man den Lehrern huldigen, bedächtig sollte man den Weisen dienen, bedächtig sollte man seine Sinne zügeln und bedächtig die weltlichen Freuden genießen. Bedächtig sollte ein Lehrer antworten, wenn er nach Religion und Gerechtigkeit befragt wird. So wird man die Antwort nicht bereuen müssen. Und nachdem der askesereiche Gautama in dieser Einsiedelei noch viele Jahre die Götter verehrt hatte, ist er schließlich zum Himmel aufgestiegen, wie auch sein Sohn.


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