Pushpak Mahabharata Buch 12Zurück WeiterNews

Kapitel 194 - Vom Selbst und der Welt

Yudhishthira sprach:
Oh Großvater, sprich zu mir von jenem Wesen, welches man Adhyatma (die höchste Seele oder das Selbst) nennt und die Basis jeder Person ist. Oh Kenner des Brahman, belehre mich über jenes, woraus dieses Weltall aus belebten und unbelebten Geschöpfen geschaffen wurde und wohin es zurückgeht, wenn die universale Auflösung beginnt.

Bhishma sprach:
Von dieser höchsten Seele, worüber du mich befragt hast, oh Sohn der Pritha, möchte ich jetzt sprechen. Dies ist höchst angenehm und bringt große Glückseligkeit. Viele ruhmreiche Lehrer haben bereits von der Wahrheit über die Schöpfung und den Untergang des Weltalls gesprochen. Wer diese Wahrheit erkennt, kann sogar in dieser Welt große Zufriedenheit und Glückseligkeit erreichen. Solche subtilen Erkenntnisse führen auch zum Erwerb einer bedeutenden Frucht, nämlich dem Mitgefühl für alle Wesen.

Raum, Wind, Licht, Wasser und Erde gelten als die großen Geschöpfe (die fünf Elemente). Diese bilden sowohl das Werden als auch das Vergehen aller anderen Geschöpfe. Zu ihm, von dem diese großen ursprünglichen Elemente ihren Ursprung haben, kehren sie immer wieder zurück, indem ihre vielfältigen Gestaltungen zerfallen, wie die Wellen des Ozeans kommen und gehen. Wie die Schildkröte ihre Glieder ausstreckt und wieder zurückzieht, so entfaltet die Höchste Seele alle Geschöpfe und zieht sie wieder in sich zurück. Diese Schöpferkraft formt alles aus den fünf ursprünglichen Elementen in verschiedenen Verhältnissen, was jedoch die Lebewesen nicht sehen können: Klang, die Sinne des Hörens und jeglicher Raum - diese drei entstehen aus dem Raumelement. Fühlbarkeit, Berührungssinn und jegliche Bewegung sind die drei Erscheinungen des Windelements. Sichtbarkeit, Augen und Hitze sind die drei Erscheinungen des Feuerelements. Geschmack, Zunge und alle Flüssigkeiten sind die drei Erscheinungen des Wasserelements. Geruch, Nase und alle Körper sind die drei Erscheinungen des Erdelements. Dies sind die fünf großen Elemente, und der Geist gilt als sechstes. Damit sind die fünf Sinne und das Denken, oh Bharata, die sechs (gewöhnlichen) Quellen der Wahrnehmung eines Lebewesens. Das siebente nennt man Vernunft (Buddhi) und das achte das Selbst (Kshetrajna). Die Sinne dienen der Wahrnehmung, die Gedanken zergliedern und zweifeln, die Vernunft reduziert die Wahrnehmungen zur Erkenntnis, und das Selbst ist der beständige Zeuge. Dieses Selbst sieht alles, was aufgerichtet wurde, was dahinter und was jenseits davon ist. Erkenne, daß dieses Selbst das ganze Universum vollständig durchdringt.

Der Mensch sollte die Sinne, das Denken und die Vernunft wahrhaft durchschauen. Die drei Qualitäten der Dunkelheit, Leidenschaft und Güte (die drei Gunas: Tamas, Rajas und Sattwa) bestehen in enger Verbindung mit den Sinnen, dem Denken und der Vernunft. Wer mithilfe seiner Vernunft die Art und Weise erkennt, wie die Geschöpfe kommen und gehen, wird zweifellos bald zeitlose Stille und Seligkeit erreichen. Die drei Qualitäten (Dunkelheit, Leidenschaft und Güte) führen die Vernunft (zu weltlichem Wissen bzw. Anhaftung). Diesbezüglich ist die Vernunft mit den Sinnen und dem Denken identisch. So identifiziert sich die Vernunft mit den fünf Sinnen und dem Denken sowie mit den damit erkannten Objekten (als eine Person). Gäbe es keine Vernunft (Erkenntnisfähigkeit) könnten die drei Qualitäten keine Wirkungen entfalten. Dieses ganze Weltall aus belebten und unbelebten Geschöpfen basiert auf dieser Vernunft. Mit ihr entsteht alles und mit ihr vergeht alles. Deshalb besagen die Schriften, daß alles eine Manifestation der Vernunft ist. Sie hört durch das Ohr, sie riecht durch die Nase, sie schmeckt durch die Zunge, sie fühlt durch die Haut, und sobald sie irgendetwas begehrt, wird sie zum Denken. So unterschiedlich und vielfältig erfahren wir diese Vernunft. Sie stützt sich auf die Fundamente der fünf Sinne und des Denkens, die verschiedenen Zwecken dienen. Über ihnen thront das unsichtbare Selbst (als ewiger Zeuge). Die Vernunft verstrickt sich in einem Lebewesen gewöhnlich mit den drei Qualitäten (der Leidenschaft, Dunkelheit und Güte). So erfährt sie manchmal Glück und manchmal Leid oder versinkt in Unbewußtheit. Auf diese Weise besteht die Vernunft auch im Geist aller Menschen. Ganz selten überwindet sie die drei Qualitäten (durch die Kraft des Yoga), wie der Ozean als Herr aller Flüsse seine natürlichen Begrenzungen überschreitet. Wenn die Vernunft die drei Qualitäten überwunden hat, besteht sie alleinsam in einem reinen Geist. Andernfalls ist sie von Dunkelheit umhüllt, und die Leidenschaft treibt sie zum Handeln. Damit identifiziert sich die Vernunft mit den Sinneserfahrungen, und die drei Qualitäten entfalten ihre Eigenschaften: Das Glück kommt aus der Güte, das Leiden aus der Leidenschaft und die Unwissenheit aus der Dunkelheit. Alle denkbaren Zustände sind in diesen drei Qualitäten eingeschlossen. Damit habe ich dir, oh Bharata, den Weg der Vernunft beschrieben.

Ein intelligenter Mensch sollte alle seine Sinne zügeln. Denn die drei Qualitäten der Güte, Leidenschaft und Dunkelheit haften stets an allen lebendigen Geschöpfen. Damit entsteht die dreifache Empfindung, oh Bharata. Die Qualität der Güte bringt Glück, die Qualität der Leidenschaft bringt Leiden und durch die Qualität der Dunkelheit werden beide zur weltlichen Wirklichkeit (durch Unwissenheit bzw. Illusion). Jeder freundliche und glückliche Zustand, der in Körper und Geist erscheint, gilt als Wirkung der Qualität der Güte. Jeder unfreundliche und leidvolle Zustand kommt aus der Qualität der Leidenschaft. Davor sollte man sich nicht ängstigen. Und jeder Zustand, der mit Wahnvorstellungen und Fehlerhaftigkeit verbunden ist, wodurch man nicht weiß, was zu tun und was zu lassen ist, und der dumpf und träge erscheint, gehört zur Qualität der Dunkelheit. Heiterkeit, Zufriedenheit, Entzücken, Glück und innere Ruhe sind die Wirkungen der Güte, die den Menschen manchmal erfüllen. Unzufriedenheit, Herzbrennen, Kummer, Begierde und Ehrgeiz sind die Merkmale der Leidenschaft, egal aus welchen Ursachen sie erscheinen. Schande, Wahngebilde, Mangelhaftigkeit, Träumerei und Trägheit sind die verschiedenen Wirkungen der Dunkelheit, die das Geschöpf höchst unglücklich machen. Wessen Geist dagegen offen, weitsichtig, wohlgezügelt und mißtrauisch bezüglich aller Begierdeobjekte ist, der wird in dieser Welt glücklich und auch in der kommenden.

Erkenne den subtilen Unterschied zwischen (persönlicher) Vernunft und höchstem Selbst! Das eine entfaltet die drei Qualitäten, und das andere schaut gelassen zu (als ewiger Zeuge). Sie sind miteinander verbunden, wie der Vogel mit dem Feigenbaum, wo er sich niedergelassen hat (um an den süßen Früchten zu picken). Obwohl sie eine Einheit bilden, erscheinen sie beide unterschiedlich. Ähnlich sind Vernunft und Selbst in ihrem Wesen eins, obwohl sie unterschiedlich erscheinen. So bestehen auch Fisch und Wasser als eine Einheit, obwohl sie ganz unterschiedlich erscheinen. Dasselbe gilt für die (persönliche) Vernunft und das höchste Selbst. Durch die drei Qualitäten kann man das höchste Selbst nicht sehen, aber das Selbst sieht alles. Das Selbst ist der ewige Zeuge der Qualitäten (bzw. ihrer Erscheinungen) und betrachtet sie alle als aus sich selbst entstehend. Dieses Selbst schaut durch die Sinne, das Denken und die Vernunft als siebentes, welche ohne das Selbst alle untätig und unbewußt wären, und erkennt mit ihrer Hilfe die Objekte, wie mit einer Lampe, deren begrenzter Strahl umherschweift. Damit bringt die Vernunft (bzw. Erkenntnisfähigkeit) alle Qualitäten (bzw. Erscheinungen) hervor, und das Selbst schaut sie nur an (als ewiger Zeuge). Das ist die untrennbare Verbindung zwischen Vernunft und höchstem Selbst. Es gibt nichts, wovon Vernunft und Selbst noch abhängig wären. Die Vernunft schafft das Denken und alle anderen Erscheinungen und nie umgekehrt. Wenn die Vernunft mittels des Denkens die umherschweifenden Strahlen der Sinne zügelt, dann leuchtet das Selbst wie eine Lampe allseitig durch seine Umhüllung hindurch.

Wer die gewöhnlichen Anhaftungen löst, Entsagung übt, der Selbsterkenntnis gewidmet ist, am Selbst seine Freude hat und sich als das Selbst aller Wesen erkennt, der wird Höchstes erreichen. Wie ein Wasservogel beim Schwimmen vom Wasser nicht durchnäßt wird, so kann ein Weiser mit Selbsterkenntnis in dieser Welt unter den Geschöpfen leben. Auf diese Weise sollte man mithilfe der Vernunft in der Welt handeln, ohne Sorge, ohne Euphorie, mit gleicher Sicht für alles und ohne jegliches Übelwollen und Beneiden. Wer ein solches Leben verwirklichen kann, der überschreitet die drei Qualitäten wie die Spinne ihr eigenes Netz (ohne sich darin zu verstricken oder anzukleben). Denn wahrlich, die Qualitäten sind klebrig und verfänglich wie die Fäden einer Spinne. Einige behaupten, daß die Qualitäten in solchen (erleuchteten) Menschen vernichtet werden. Andere behaupten das Gegenteil. Die einen verlassen sich auf diese Schriften, die anderen auf jene Schriften. Man sollte beide Meinungen bedenken und diesbezüglich selbst Erfahrungen sammeln. So wird man jede harte und knorrige Frage überwinden, die den Verstand durch Zweifel zerstören kann, und zufrieden sein. Wenn die Zweifel (über Sein und Nichtsein) wahrlich gelöst sind, wird man heiter dasitzen und keinen Sorgen mehr anhaften. Selbst Menschen mit Sünde können durch Selbsterkenntnis erfolgreich sein, wie man in einen wohlgefüllten Fluß eintaucht und sich von allem Schmutz reinigt. Wer einen breiten, reißenden Strom durchqueren will, fühlt sich noch nicht zufrieden, wenn er nur das jenseitige Ufer sieht. Nicht anders ist es mit dem, der die Wahrheit erkennt. Die zunehmende Wahrhaftigkeit wird ihn reinigen, bis das andere Ufer sicher erreicht ist.

Selbsterkenntnis ist die Sicht auf das Selbst, befreit von allen weltlichen Erscheinungen, auf das Eine ohne ein Zweites. Wer darin den Ursprung und das Ende aller Geschöpfe wahrhaft erkennt, der findet allmählich ewige Stille und Seligkeit. Wer die dreifache Anhäufung (von Dharma, Artha und Kama) durchschaut hat und ihr bewußt entsagt, kann durch Yogakraft die Wahrheit erkennen und vollkommene Glückseligkeit erreichen. Das Selbst kann nicht erkannt werden, solange die Sinne, die an den vielfältigen Objekten haften und zersplittert umherschweifen, nicht tiefgründig gezügelt werden. Selbsterkenntnis ist Weisheit. Welches andere Merkmal hätte ein Weiser? Durch Selbsterkenntnis wissen sie, daß alles vollbracht ist. Das, was die Unwissenden mit Angst verwirrt, kann sie nicht mehr überwältigen. Es gibt für keinen etwas Höheres. Unbeschreibbar ist diese Vollkommenheit. Wer ohne persönliches Verlangen nach den Früchten handelt und sein Karma aus früheren Handlungen bereinigt, der erreicht dieses Ziel. Für den Weisen bringen die früheren Taten (die bereinigt wurden) und die Handlungen dieses Lebens (die ohne Anhaftung vollbracht werden) keine leidvollen Konsequenzen mehr hervor. Damit ist Vollkommenheit sogar in dieser Welt. Wenn auch unwissende Menschen diese Welt tadeln und leidend im Rad der Geburten wandern, im Grunde ist sie vollkommen. Sieh doch jene Unwissenden in der Welt, die sich ständig um ihre Besitztümer sorgen. Und sieh jene, die durch Selbsterkenntnis alles Leiden überwunden haben. Wer diese beiden Wege kennt (den Väterweg zur Wiedergeburt und den Götterweg zur Erlösung) kann wahrlich als Wissender gelten.


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